Liebe Leser
In einer sehr bekannten Stadt, vor gar nicht allzu langer Zeit: Heute ist es also soweit. Mein erstes Musical in Deutschland. Und es wird direkt ein Ausflug nach Chicago! Chicago? Ok, so weit weg geht es nicht, sondern ins Baden-Württembergische Stuttgart, in dem „Chicago“ seit dem 6.11. im Stage Palladium Theater aufgeführt wird.
Leidenschaftlich, aufregend und sexy… das ist Chicago. Jedenfalls verspricht das die Seite des Stage. Die Show biete eine Mischung aus Liebe und Lüge, Ruhmsucht und Eitelkeit, Betrug, Verrat und Verbrechen – garniert mit einzigartigen Tanzszenen und dem Lebensgefühl der 20er Jahre.
Es soll zeitlos werden. Mit einem auf den ersten Blick verführerischen Tanzstil. Und am Ende wird der heutigen Gesellschaft noch der Spiegel vorgehalten. Ich bin gespannt!

Für mein Musical-Wochenende geht es also in das SI-Centrum in Stuttgart, in dem in einem weiteren Saal, dem Stage Apollo, direkt gegenüber seit geraumer Zeit „Tarzan“ aufgeführt wird. Das Theater gilt als hochklassig und entsprechend teuer. Insgesamt 1.807 Plätze auf 3 Ebenen wollen pro Vorstellung gefüllt werden. Meine reizende Begleitung und ich haben 2 Karten in der zweiten Kategorie ergattert und dafür jeweils ca. 120€ bezahlt. Für einen Abend in der zwanzigsten Reihe eine nicht gerade geringe Summe wie wir finden. Dafür verspricht die moderne Konzeption des Palladiums mit seinem ansteigenden Parkett eine besondere Bühnennähe und einen erstklassigen Blick von jedem Platz aus. Drinnen merke ich, dass das etwas viel versprochen ist: Wir würden die Tänzerinnen und Tänzer gerne von weiter vorne sehen – natürlich weil sich herausstellt, dass sie mehr als einfach nur „sexy“ sind, sondern umwerfend! – und wir hören den Ton nur von vorne von der Bühne aus. Entweder hier lief etwas schief oder die Lautsprecher im hinteren Bereich waren absichtlich aus. Egal, wir lassen uns nicht weiter stören, sondern freuen uns auf das Stück.
Kurz vorab lese ich, dass das Stück „Chicago“ seit 18 Jahren ohne Unterbrechung in New York am Broadway gespielt wird und damit eine der erfolgreichsten Musical-Geschichten aller Zeiten ist. Und die Premiere in Stuttgart wurde natürlich mit Standing-Ovations gefeiert. Doch worum geht es?

Foto: Stage Entertainment
Roxy Hart (Carien Keizer) erschiesst ihren Liebhaber. Warum? Na weil er sie sitzenlassen wollte. Die hübsche, blonde Nachtclub-Sängerin landet daraufhin im Gefängnis und lernt dort eine weitere Tänzerin – Velma (Lana Gordon) – kennen. Übrigens nicht nur Velma, sondern noch weitere besonders hübsche Tänzerinnen, die alle ihren Mann, Geliebten oder Freund wegen Kaugummi-Blasen-platzen-lassen, flotten Dreiern oder wegen was-weiß-ich erschossen, erstochen oder vergiftet haben. Aber trotzdem, ein Mann würde gerne in diesem Gefängnis einsitzen – und das sogar freiwillig. Wir bekommen sehr schnell die tatsächlich greifbare Leidenschaft, die Aufregung und auch den Sex-Appeal zu sehen. Zwischendurch fragen wir uns, „Wer ist hier eigentlich heißer, die Frauen oder die Männer?“. Denn Männer gibt es auch reichlich zu sehen und ich lasse mir sagen, dass man hier als Frau auch definitiv etwas zu gucken hat.

Foto: Stage Entertainment
Zurück zur Story, zurück zu Velma. Sie ist dank der sich rührend kümmernden Knast-Mutti Morton (Isabel Dörfler) ein angehender Medienstar und plant schon eine große Karriere nach ihrer Freilassung. Velma ist übrigens diejenige, die ihren Mann (oder Liebhaber?) beim Dreier erwischt und dann direkt Nägel mit Köpfen gemacht hat. Oder besser gesagt Löcher mit Kugeln… Doppelmord! Sehr blutig, wird jedenfalls gesagt. Mit Roxy tritt jetzt eine für Vilma ungebetene Konkurrenz auf den Plan. Knast-Mutti Morton ist natürlich moralisch flexibel und unterstützt abwechselnd Roxy und Velma, Hauptsache das Geld stimmt. Eine Boulevardjournalist wittert in Roxy die große neue Story und stilisiert sie zu einer irgendwie-anders-aufregenden Mörderin hoch. Es beginnt ein Drama um die Tänzerinnen und den überaus charmanten Anwalt Billy Flynn. Billy Flynn, der mit Abstand charismatischste Charakter des Abends – hervorragend gespielt von Nigel Casey – singt von sich zwar, dass er „nur für Liebe da“ ist, aber letztendlich wissen wir doch alle: Ihm geht‘s doch nur ums Geld. Er verteidigt nicht nur Velma sondern nun auch Roxy. Gekonnt leiert er dem betrogenen Weichei-Ehemann von Roxy, Amos Hart (Volker Metzger), sein Honorar aus der Tasche und nennt ihn dabei Andy oder irgendwie wie es ihm gerade passt. Man merkt, dass die „unschuldige“ Roxy ihren Schussel-Dussel Andy irgendwie liebt oder wenigstens geliebt hat, aber auch einfach einen echten Mann braucht. Hier frage ich mich: Hält das jetzt den heutigen Ehemännern, Freunden und „übersehenen“ Männern den Spiegel vor? Hoffentlich denkt hier nachher der ein oder andere im Publikum über sich nach…
Jedenfalls ist Ehemann-Amos wirklich bemitleidenswert unwichtig. Er porträtiert den Archetypen des ehemals starken Geschlechts als manipulierbar und durchsetzungsschwach. Am Ende bekommt er nicht mal eine Abgangsmelodie und wird damit sogar vom Dirigenten des Abends (Klaus Wilhelm) ignoriert. Wenigstens bekommt er hierfür einen großen Applaus für seine darstellerische Leistung.

Foto: Stage Entertainment
Das Stück verläuft zum Ende hin immer wieder einen Tick amerikanischer. Es gipfelt in einer mehr oder weniger dramatischen Gerichtsverhandlung, in der sich letztendlich entscheidet, welches Schicksal Roxy und Velma erwartet. Kommen sie frei oder bleiben sie im Gefängnis? Werden sie Stars? Tatsächlich ist die Story bis hier hin sehr interessant und es wurde zu keiner Zeit langweilig. Spätestens bei der Verhandlung wird mir allerdings klar, welcher Gesellschaft und auch „wie“ ihr der Spiegel vorgehalten wird: Der Gerichtsdiener (im Netzhemdchen – der Richter trägt übrigens auch eins – ja, für die Frauen gibt es definitiv was zu gucken) geht mit einer Bibel nach vorne zur Angeklagten Roxie und eröffnet die Befragung mit den Worten „Blablabla, Blablabla, Wahrheit, Wahrheit, Wahrheit, blablabla“.
Es geht um Mediengeilheit statt Tragödien. Es geht um Gelaber statt Gerechtigkeit. Es geht um Geld statt um Liebe. Was soll’s. Uns hat es ganz hervorragend unterhalten! Wer allerdings mit Jazz und Tanz nichts anfangen kann ist hier wahrscheinlich falsch. Das Bühnenbild bleibt schließlich während des gesamten Stückes gleich: Vor dem bühnenfüllenden Orchester des Palladium spielt sich die Handlung auf einer ganze normalen Tanzfläche ab. Es gibt also hier und da mal einen Stuhl, eine einklappbare Leiter und am Ende einen Glitzervorhang. Und das war’s… Macht aber nichts!
Dafür wirbeln die Damen und Herren der Schöpfung in begeisternden Choreographien über die Bühne, die Band spielt fantastischen Jazz und der Gesang passt auch bestens. Einige Tanzeinlagen sind zwar – O-Ton – „beschissen“, aber das ja zum Glück absichtlich. Wir sehen, dass diese Künstler es wirklich drauf haben.
Was immer wieder zwischendurch überrascht sind die scheinbar unpassenden Kommentare, Interaktionen oder Einlagen während des Stückes: Roxie zeigt dem Dirigenten des Orchesters stolz einen Zeitungsartikel über sich selbst oder drei Herren führen auf der rechten Bühnenseite einen Tanz auf, der überhaupt nichts mit der Szene zu tun hat. Zu den Worten „Meine Damen und Herren, ein Stepptanz“ zünden sie sich eine Zigarette an und legen los. Das gefällt!

Alles in Allem ist Chicago ein hervorragendes Musical, das ich insbesondere tatsächlich wegen der Musik und dem Tanz loben möchte. Auch die Geschichte unterhält und die Darsteller komplettieren den gelungenen Abend. Ich freue mich auf ein weiteres Musical, gerne auch wieder in Stuttgart, dann allerdings zehn Reihen weiter vorne.
Viele Grüße
Thomas Ess